Abtreibungsüberlebende – PASS – Ein Praxisbeispiel: Karl.
Karl ist 27. Er studiert Betriebswissenschaften, drittes Semester. Es hat lange gedauert, bis er überhaupt wusste, was er studieren sollte. Das lag nicht daran, dass er dumm wäre oder kein Interesse gehabt hätte. Nein, er hatte Interesse, aber eine lähmende Depression hielt ihn seit Jahren im Griff. Lustlosigkeit. Antriebslosigkeit. Sinnlosigkeitsgefühle. Was war nur los mit ihm?
Er ist 26, als ihm ein Freund das Buch Abtreibungsüberlebende[1] zum Lesen gibt. Wenn ein anderer ihm das Buch gegeben hätte, hätte er es sogleich weggelegt, aber weil es Richard, sein Freund ist, beginnt er zu lesen. Er traut seinen Augen nicht. Als er, Wochen später, mir gegenübersitzt, sagt er:
»Das Buch bin ich. Je mehr ich weiterlas, desto mehr wusste ich: Das, was dort beschrieben wird, das bin ich. Ich bin der Abtreibungsüberlebende. Das bin ich. Und plötzlich, nach Jahren, habe ich mein Leben verstanden. Es war wie Puzzlesteine, die sich zusammenfügten. Und ich wollte es genau wissen. Ich wollte nicht womöglichen Einbildungen glauben, ich wollte es genau wissen. Also ging ich zu meinem Vater und fragte ihn geradeaus, ob er und meine Mutter eine Abtreibung hatten. Er gab mir zur Antwort, er könne darauf nichts antworten, ich solle meine Mutter fragen. Ich fragte sie: Hattest Du eine Abtreibung? Sie sagte: Ja.«
Karl ist ein kräftiger, etwas übergewichtiger junger Mann. Als er weitererzählt, schaut er mich nur manchmal an, immer wieder weicht sein Blick nach links oder rechts aus.
»Ich habe eine Stinkwut in mir. Ich könnte zuschlagen und nochmals zuschlagen. Man sagt zu mir, mein Leben sei schön, aber ich finde, mein Leben ist Sch… Ich hatte Selbstmordgedanken. Jetzt weiß ich, wo die herkommen.«
Was bedeutet „Abtreibungsüberlebende – PASS“?
Das Kürzel steht für Post Abortion Survivor Syndrome. Gemeint sind damit die Symptome mit Krankheitswert von sogenannten Abtreibungsüberlebenden. Mit dem Begriff Abtreibungsüberlebender bezeichnen der Kinderpsychiater Philip G. Ney und seine Frau, die Ärztin Marie Peeters-Ney, all diejenigen Personen, die eine Abtreibung überlebt haben. Danach ist beispielsweise ein Abtreibungsüberlebender ein Kind, welches in eine Familie hineingeboren wird, in der ein Geschwisterkind (oder mehrere Geschwisterkinder) durch Abtreibung ums Leben kam (kamen), während das überlebende Kind sich fragt, warum es selbst überleben durfte.
Pionierarbeit aus den USA
Die Neys haben in jahrzehntelanger Forschung, in intensiven und ausführlichen Interviews, Gesprächen, Workshops und Heilungsseminaren die Symptome von Abtreibungsüberlebenden systematisch untersucht und analysiert.
Die Fragen, die sich stellten:
- Wie reagieren Kinder auf die Tatsache, dass in der eigenen Familie ein Geschwisterchen durch Abtreibung ums Leben gekommen ist?
- Wie gelangen Kinder überhaupt zum Wissen oder zur Ahnung, dass eines ihrer Geschwister abgetrieben wurde?
- Welche Auswirkungen hat es auf Kinder, wenn man sie, die Geborenen, zu sogenannten »Wunschkindern« stilisiert, d.h. zu Kindern, die deswegen das Licht der Welt erblicken durften, weil sie erwünscht waren – was einschließt, dass es offensichtlich andere Kinder gibt, die nicht erwünscht, keine Wunschkinder sind und daher beseitigt werden dürfen?
- Schließlich: Welche globalen Auswirkungen hat das Phänomen der Abtreibung und ihrer Opfer? Sind wir alle betroffen?
Die Forschungsarbeit der Neys ist Pionierarbeit, wobei sie sich unbeirrt von dem Grundsatz leiten ließen, dass die Wahrheit der Abtreibungsüberlebenden, da sie Wahrheit ist, ans Licht gebracht gehört.
Abtreibungsüberlebende – PASS – Ungeliebte Wahrheit
Tatsächlich stehen dieser Wahrheit gewaltige Gegenströme entgegen. Das, was man gemeinhin political correctness nennt, ist nicht nur nicht interessiert an der Geschichte der Opfer der Abtreibung, sondern versucht sogar vehement, diese Opfer zu marginalisieren beziehungsweise vollständig aus dem öffentlichen Gespräch auszuklammern.
Denn wer will schon die Verantwortung übernehmen für Taten, die Opfer schaffen, und dies alles unter dem wohlfeilen Namen von Selbstbestimmung, Frauenrechten und Freiheit?
In einem Interview mit Father Frank Pavone, dem Gründer von Priests for Life (USA) gibt Philip G. Ney auf die Frage: »Gibt es Ihrer Meinung nach besondere Schwierigkeiten bei der Veröffentlichung von Forschungsarbeiten, die sich mit einem so sensiblen und brisanten Thema wie der Abtreibung befassen?« die dekuvrierende Antwort:
»Ja, ja. Es ist traurig zu sagen, – und ich war in Redaktionsausschüssen von Zeitschriften und weiß, wie sie arbeiten und wie sehr sie im Herzen das Richtige tun und gute Sachen veröffentlichen wollen, – aber es gibt eine gewisse Blindheit gegenüber bestimmten Dingen, von denen sie bereits die Schlussfolgerung gezogen haben, dass sie nicht existieren können. Und wenn ich etwas über den Zusammenhang zwischen Kindesmissbrauch und Abtreibung veröffentliche, werden viele meiner Kollegen, ohne die Studien gelesen zu haben, sehr wütend – nicht auf die Studie, sie kritisieren nicht die Studie, sie werden wütend auf mich. Das alte argumentum ad hominum. Und das finde ich wirklich traurig, denn wenn wir diese Sache wissenschaftlich angehen wollen, müssen wir unseren Geist offen halten, und ich fürchte, dass einige meiner Kollegen ihren Geist in diesen Fragen nicht offen halten.«
Ein gesellschaftliches Problem
Da die Abtreibung – insbesondere seit ihrer Liberalisierung im Westen in den 1970er Jahren -zu einem epidemischen Phänomen geworden ist, folgt daraus logischerweise, dass es auch Überlebende der Abtreibung in epidemischem Ausmaß gibt.
Es ist keine Übertreibung festzustellen, dass es heute ein Heer an Abtreibungsüberlebenden gibt, die im Grunde darauf warten, endlich ganz im Leben anzukommen, dazuzugehören, sicher zu sein im Leben, endlich zu wissen, dass ihr Leben eine Kostbarkeit ist, die von keinem Urteil eines anderen abhängig ist.
Denn wie schrecklich ist diese Vokabel »Wunschkind«. Eben weil der Abtreibungsüberlebende weiß, dass ein oder mehrere Geschwister von ihm getötet wurden, ist eines der verstörenden Symptome, die er als Überlebender mit sich herumschleppt, die Befürchtung, dass er selbst schuld ist am Tod des Geschwisters.
Wenn, so der verheerende Gedanke,
es ihn nicht gäbe, würde das Geschwister leben.
Oder: Weil das Leben des Abtreibungsüberlebenden gleichsam an einem seidenen Faden hängt, nämlich an dem fortwährenden Bemühen, bei den Anderen beliebt zu sein, »erwünscht« zu sein, wird das Leben zur Qual dessen, der stets unter dem Blick der Anderen steht.
Perspektivenwechsel im Alltag
Lässt man die nahezu gänzlich verschwiegene Tatsache der Abtreibungsüberlebenden an sich heran, dann, so viel ist sicher, sieht man manche Alltäglichkeiten plötzlich in einem anderen Licht, dem Licht des Verstehens.
Zum Beispiel: Man fährt in der U-Bahn. Das Bild ist immer dasselbe. Die Altersgruppe der 13 – 50-jährigen ist zwar da, aber zugleich nicht da. Man ist mit dem Handy beschäftigt, oder hat Kopfhörer auf, oder die in-ears appliziert, die, dank noise cancelling, von der Umwelt abschotten.
Aber warum dieses Abschotten, warum dieses Wegtreten aus der Wirklichkeit? Könnte es sein, dass etliche der Passagiere Abtreibungsüberlebende sind? Dass sie einen unsäglichen Schmerz in sich tragen, unwissend wissend, weil die Seele mehr weiß als sich der Verstand einzugestehen wagt, und weil es gilt, diesen Schmerz zu betäuben?
Und welches Rezept der Sedierung ist probater als ein Klick am Handy? Dann flimmern die bunten Bilder oder der sound deckt den Schmerz zu, nämlich das Grauen darüber, in einer Familie zu leben, in der nicht irgendeiner, sondern mein Bruder, meine Schwester durch Abtreibung ums Leben kamen.
Dabei die unauslöschliche Gewissheit in sich tragend, denn dies ist in unsere DNA eingeschrieben, dass die Familie eigentlich der Ort der Geborgenheit sein sollte, der freie Raum, wo man das Vertrauen ins Leben lernt sowie die schöne Zuversicht, dass es gut gehen wird mit meinem Leben.
Was liegt da näher als zu fliehen, wenn der Schmerz zu unverständlich und zu groß ist? Das Internetprogramm kann ich, sollte es zu peinigend werden, durch einen Klick wechseln. Die eigene Familie jedoch kann ich durch keinen Klick wegzappen.
Großer Dank der Familie Ney
Den Neys ist zu danken. Philip starb am 27. Jänner 2025. Er, gemeinsam mit seiner Frau Marie, gehören zu den Großen ihrer Zunft.
Willst du mehr zum Thema Abtreibung Wissen? Klicke hier: https://prolifeeurope.org/de/mehr-wissen/abtreibung-in-europa-gesetze-und-statistiken/
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Mehr zu diesem Thema:
https://www.mattes.de/buecher/praenatale_psychologie/PP_PDF/PP_10_1_Ney.pdf
https://www.heartbeatservices.org/pdf/Post-Abortion_Survivor_Syndrome.pdf
https://www.liveaction.org/news/lost-four-siblings-abortion-pro-life/ https://www.rachelsvineyard.org/PDF/Articles/Abortion%20Survivors%20-%20Philip%20Beard.pdf
[1] Philip G. Ney/Marie A. Peeters-Ney, Abortion survivors. 1998.